Opinions

Merkels unerträgliches Schweigen

Sehr geehrte Angela Merkel,

Wir schreiben Ihnen als Wissenschaftler, Schriftsteller und Aktivisten, die über die Angriffe auf die Demokratie in Ungarn sehr besorgt, und ob ihrer Untätigkeit aufrichtig schockiert, sind.

Seit Viktor Orbán 2010 zum Premierminister gewählt wurde, hat er die staatlichen Fernseh- und Radiosender in Propagandamaschinen verwandelt, die wichtigsten privaten Sender unter beträchtlichem Druck an seine politischen Kumpanen verkaufen lassen, die Kontrolle über die wichtigsten Gerichte des Landes übernommen, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen akademischen Institutionen massiv eingeschränkt, die nationale Wahlkommission mit eigenen Handlangern besetzt, und das Wahlsystem zu seinem eigenen Vorteil umgekrempelt.

Experten halten die Wahlen, die vor kurzem in Ungarn stattgefunden haben, deshalb weder für vollkommen frei noch auch nur für einigermassen fair.

Gleichzeitig hat die ungarische Regierung in den letzten Monaten immer wieder die Flammen des Anti-Semitismus angefächert. Herr Orbán hat öffentliche Gelder dazu missbraucht, in einer großangelegten Propagandaaktion einem jüdischen Banker eine internationale Verschwörung gegen Ungarns christliche Kultur zu unterstellen. In einer Wahlkampfrede in Budapest ging er sogar so weit, Juden implizit als Feinde der ungarischen Nation darzustellen: „Wir kämpfen gegen einen Feind, der anders ist als wir. Nicht offen sondern versteckt. Nicht gradlinig sondern hinterlistig. Er glaubt nicht an die Arbeit sondern spekuliert mit Geld. Und er hat kein Heimatland sondern will die ganze Welt besitzen.“

Durch Ihr Schweigen machen Sie sich mitschuldig. Aufgrund Ihres Nichtstuns sind Sie de fakto zu einer Allierten dieser antidemokratischen und antisemitischen Kräfte geworden.

Laut vielen führenden Politiwissenschaftlern ist die ungarische Demokratie deshalb akut bedroht; einige von ihnen halten sie sogar für effektiv zerstört. Trotzdem haben Sie bisher weder Herrn Orbans antisemitische Rhetorik noch seine Angriffe auf demokratische Institutionen öffentlich verurteilt.

Ja, die Partei, der Sie vorstehen, sitzt im Europäischen Parlament auch heute noch mit Fidesz, der Partei von Herrn Orban, in einer Fraktion; obwohl die Europa-Abgeordneten der CDU Herrn Orbán immer wieder legitimiert haben, haben Sie sie nie dazu aufgefordert, ihren Kurs zu wechseln.

Durch Ihr Schweigen machen Sie sich mitschuldig. Aufgrund Ihres Nichtstuns sind Sie de fakto zu einer Allierten dieser antidemokratischen und antisemitischen Kräfte geworden.

Wenn religiöse Minderheiten, inklusive Juden, sich in Europa sicher fühlen sollen, dann müssen sie wissen, dass die wichtigsten Politiker des Kontinents sie nie verraten werden.

Tibor Illyes/EPA

Doch wie sollen deutsche Juden ihrer Regierung abnehmen, dass sie sich ernsthaft gegen Antisemitismus einsetzt, wenn die größte Partei des Landes Antisemiten zu ihren Verbündeten im Europäischen Parlament zählt? Und wenn die Bundeskanzlerin zwar zur Bedeutung des jüdischen Lebens in Deutschland immer wieder Lippenbekenntnisse abgibt, Orbáns abscheuliche Rhetorik aber nicht zu verurteilen wagt?

Der Preis, den ganz Europa zahlen wird, um einen Konflikt mit Orbán zu vermeiden, ist viel größer als Ihnen klar zu sein scheint. Die Europäische Union ist auf den Werten der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte begründet. Indem sie es der ungarischen Regierung erlaubt, ungestraft demokratische Institutionen zu zerstören und Minderheiten zu dämonisieren, verkommt die EU zu einem regionalen Handelsblock ohne gemeinsame Werte.

Andere Möchtegern-Diktatoren werden Orbáns Erfolg als Freischein ansehen, dass auch sie die Demokratie in ihrem Land unterhöhlen können. Demokratische Institutionen würden zunehmend geschwächt, bis das gegenseitige Vertrauen, dessen die EU dringlich bedarf, gänzlich zusammenbricht.

Sie wissen aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, in einem Land ohne Redefreiheit oder echte Wahlen aufzuwachsen. Während ihrer beeindruckenden politischen Laufbahn haben sie zu den Verbrechen des Dritten Reiches und den Gefahren des Antisemitismus immer bewunderswert klare Worte gefunden. Ihre augenscheinliche Abneigung gegenüber Diktaturen jeder Art erklärt, warum sie im In- und Ausland lange solch großen Respekt genossen.

Ihre Untätigkeit ob der Entwicklungen in Ungarn beschädigt diesen Respekt nun gewaltig. Wir wissen allzugut, dass Sie viele taktische Gründe haben, die Vorgänge in Ungarn zu ignorieren. Aber das Überleben der Demokratie und die Sicherheit der europäischen Juden sollten nie zu einer reinen Frage der Taktik verkommen.

Deshalb besteht der einzig ehrenrettende Weg, der Ihnen zu dieser späten Stunde noch offen steht, darin, sowohl Herrn Orbáns Angriffe auf die Demokratie als auch seine antisemitische Rhetorik zu verurteilen — und ihre Parteifreunde ganz klar dazu aufzufordern, Fidesz endlich aus der Europäischen Volkspartei auszuschließen.

Mit besorgten Grüßen,

Yascha Mounk, Lecturer on Government, Harvard University und autor, Der Zerfall der Demokratie

Volker Beck, Ehemaliger MdB und Innenpolitischer Sprecher von B90/Die Grünen

Georg Diez, Kolumnist, Der Spiegel

Hasnain Kazim, Journalist und Autor

Brian Klaas, Fellow in Comparative Politics, London School of Economics

Sheri Berman, Professor of Political Science, Barnard College

Jennifer Rubin, Kolumnist, Washington Post

R. Daniel Kelemen, Jean Monnet Chair in European Union Politics, Rutgers University

Grzegorz Ekiert, Professor of Government und Direktor des Center for European Studies, Harvard University

Steven Levitsky, Harvard University; ko-autor von “Wie Demokratien Sterben”

Daniel Ziblatt, Harvard University; ko-autor von “Wie Demokratien Sterben”

Lamya Kaddor, Islamische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und Publizisti

Jerry Taylor, director, Niskanen Center

Edward Luce, autor, “The Retreat of Western Liberalism” (Atlantic Monthly Press, June 13, 2017)

Sehen sie hier die vollständige Liste aller Unterzeichner.

RICHTIGSTELLUNG: In einer früheren Version dieses Artikels stand irrtümlich nicht das richtige Jahr, in dem Orbán gewählt wurde.

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